Digitale Barrierefreiheit – worauf Unternehmen jetzt achten müssen

In Deutschland leben 7,9 Millionen Menschen, also fast zehn Prozent, mit einer Schwerbehinderung. Kein Wunder, schließlich machen 91 % im Laufe ihres Lebens früher oder später Erfahrungen mit diesen gravierenden Einschränkungen. Genau deswegen rückt der Aspekt der Barrierefreiheit immer stärker in den Fokus. Gerade im digitalen Bereich jedoch lassen sich hier Mängel feststellen. Staatliche und öffentliche Online-Angebote haben bereits seit 2021 durch das Behindertengleichstellungsgesetz die Pflicht, ihre Onlinedienste barrierefrei anzubieten – was allerdings nicht konsequent umgesetzt wird: Laut eines Prüfberichts der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) vom März 2025 sei keine der überprüften staatlich angebotenen Anwendungen und Websites vollständig barrierefrei.
Auch in der privaten Wirtschaft zeigen sich Mängel: Nach einer Untersuchung von Aktion Mensch, BITV-Consult, Google, UDG und der Stiftung Pfennigparade ist nur ein Drittel der untersuchten Online-Shops in Deutschland gemäß den Web Content Accessibility Guidelines barrierefrei. Deswegen ist am 28. Juni das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft getreten. Dieses verpflichtet Privatunternehmen, ihre Online-Angebote barrierefrei zu gestalten. Mit dem BFSG wird die EU-Richtlinie „European Accessibility Act“ in nationales Recht gegossen. Ziel ist es, das Recht auf digitale Teilhabe für alle EU-Bürger*innen zu ermöglichen und die Barrierefreiheitsanforderungen zu vereinheitlichen.

 

Was genau schreibt das BFSG vor?

Die vorgeschriebenen Barrierefreiheitsmaßnahmen sind nicht willkürlich, sondern finden sich in der sogenannten „Web Content Accessibility Guideline“ (WCAG). Diese formuliert einen internationalen Standard, wenn es um die barrierefreie Gestaltung von Inhalten im Web geht. Der Standard ist dabei in die drei Konformitätsstufen A, AA und AAA aufgeteilt:

  • A: Minimale Barrierefreiheitsanforderungen, wie z. B. Screenreader-Kompatibilität oder vollständige Tastaturbedienbarkeit.
  • AA: Erweiterte Anforderungen, wie z. B. ausreichende Farbkontraste oder Videountertitel.
  • AAA: Das umfangreichste Maß an Barrierefreiheitsoptionen – mit Features wie z. B. Live-Audiobeschreibungen in leichter Sprache.

Als Mindeststandard schreibt das BFSG die Stufe AA der WCAG vor.

 

Die Prinzipien der Web Content Accessibility Guidelines

Die WCAG ist nach vier Prinzipien aufgebaut, an denen sich auch die Maßnahmen orientieren:

  • Wahrnehmbarkeit: Beispielsweise durch Alt-Texte oder verstellbare Schriftgrößen
  • Bedienbarkeit: Beispielsweise nur per Tastatur mit sichtbarer Fokusmarkierung
  • Verständlichkeit: Zum Beispiel durch einfache Sprache oder visuelle Hilfen
  • Robustheit: Durch soliden Code und die Vermeidung veralteter Technologien

 

Wer ist betroffen?

Grundsätzlich sind fast alle Unternehmen betroffen, die bestimmte digitale Produkte oder Dienstleistungen für Verbraucher*innen (B2C) anbieten. Dazu zählen beispielsweise Geld- und Fahrausweisautomaten, Telefondienste, Computer, Smartphones, B2C-Onlineshops usw.
Es gibt allerdings auch Ausnahmen: Ausschließlich geschäftliche Angebote von B2B-Unternehmen sind meistens vom Gesetz ausgenommen – außer sie entwickeln Software für öffentliche Einrichtungen, große Plattformen oder B2C-Schnittstellen. Auch Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von unter zwei Millionen Euro sind nicht betroffen, da der zusätzliche Aufwand als unverhältnismäßig hoch gilt. Sollten diese Unternehmen jedoch Produkte wie Selbstbedienungsterminals oder elektronische Dienstleistungen anbieten, die explizit unter das BFSG fallen, müssen sie dennoch die Anforderungen erfüllen.

 

Gibt es Übergangsfristen?

Grundsätzlich sollten alle betroffenen Websites, Apps und Shops längst barrierefrei sein. Eine Übergangsfrist im klassischen Sinne gibt es nicht. Für digitale Produkte, die vor dem 28. Juni auf den Markt gekommen sind, gilt allerdings eine mögliche Schonfrist bis 2030. Diese gilt jedoch nicht für Updates.

 

Gefahren des BFSG

Sollte ein Unternehmen sich nicht an die vorgeschriebenen Barrierefreiheitsmaßnahmen halten, können Behörden Bußgelder von bis zu 100.000 € verhängen. Da Verstöße von allen – egal ob Kund*innen, Konkurrent*innen oder Verbraucherschützer*innen – gemeldet werden können, ist die Gefahr, erwischt zu werden, nicht zu unterschätzen. Die konkrete Umsetzung der umfangreichen Barrierefreiheitsanforderungen ist nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern kann auch zu finanziellen Belastungen führen. Vielen mittelständischen Unternehmen fehlt es an konkreten Vorstellungen und technischer Expertise. Genau deswegen fürchten viele eine neue Abmahnwelle – wobei dies stark von den Ressourcen der zuständigen Marktüberwachungsbehörde abhängt. Jurist*innen sehen zudem eine Wettbewerbsfalle: Gerichte könnten die Anforderungen des BFSG als Marktverhaltensregelungen gemäß § 3a UWG auslegen. Dadurch könnten Unternehmen, die die Anforderungen nicht erfüllen, von ihrer barrierefreien Konkurrenz rechtlich belangt werden – mit Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzansprüchen.

 

Das sollten Unternehmen jetzt tun

Zunächst sollten Unternehmen prüfen, ob sie unter das BFSG fallen. Ist das der Fall oder besteht ein begründeter Verdacht, sollte festgehalten werden, wo Handlungsbedarf besteht – und ein Barrierefreiheitskonzept ausgearbeitet sowie juristisch geprüft werden. Anschließend sollte das Konzept mithilfe technischer Expertise umgesetzt und auch langfristig betreut werden.
Für weitere Fragen hat die Bundesfachstelle Barrierefreiheit ein umfangreiches FAQ zum Thema veröffentlicht. Außerdem bietet sie eine kostenlose Beratung für Kleinstunternehmen sowie eine Webinarreihe zum BFSG für E-Commerce-Unternehmen an.